S

Seiten

Interview mit Walter Joelsen, Überlebender des Nazi-Regimes

„Einer unter uns ist anders“

Neuhausen, eine geräumige Wohnung in der Maximilian-Wetzger-Straße. Walter Joelsen (87) hat Mineralwasser auf den Wohnzimmer-Tisch gestellt. Alte Regale, viele Bücher, daneben ein Flat-Screen. Das Aufnahme-Gerät steht irgendwie immer zu weit weg. Walter Joelsen nimmt es einfach in die Hand und lässt es das ganze Gespräch über nicht mehr los. Er hat viel zu erzählen.

Von Henning Mohr

Walter Joelsen erfährt in der Schule, dass  er für die Nazis ein sogenannter „Halbjude“ ist. Auf dem Pult des Lehrers liegt ein Zettel, auf dem steht „ Joelsen 1/2 Jude“. Seine Großeltern väterlicherseits sind Juden. Die Eltern sagen es ihm zunächst nicht. „Ein Grund war sicher die kühne Hoffnung: Wer weiß, wie lange das geht mit dem Hitler. Ich habe es später empfunden als einen Akt der Liebe und der Fürsorge, sie wollten mich nicht in Ängste versetzen. Die Kehrseite war, sie haben mich dadurch alleine gelassen.“ Es klingt nicht vorwurfsvoll. „Wenn jemand im falschen Fußballverein ist – den kann man wechseln. Aber Jude zu sein, das kann man nicht ändern.“

„Eure Kinder spielen mit diesem Halbjuden nicht mehr“

Als Walter Joelsen zwölf Jahre alt ist, verbietet der Ortsgruppenleiter den Eltern seiner Freunde, ihre Kinder mit ihm spielen zu lassen. Walter Joelsen geht wie jeden Tag zu der Wiese neben der Borstei, auf der sie immer Fußball spielen. „An diesem Tag war alles anders. Ich komm’ hin, die hören auf zu spielen. Einer nimmt den Ball. Alle schauen mich an. Keiner sagt ein Wort. Das war eine gespenstische Situation. In dem Moment war mir klar, jetzt wissen die das: Joelsen, Halbjude.“ Auf einen Schlag sind alle Freunde verschwunden, Geschwister hat er nicht. „Wenn man sich auf der Straße begegnet, schauen die woanders hin. Oder ich gehe auf die andere Straßenseite. Ich hab‘ doch nichts getan! Ich war doch derselbe wie am Tag vorher. Die waren’s nicht mehr.“ Walter Joelsen hat noch heute Schwierigkeiten, in den Block der Borstei zu gehen, in dem er damals gewohnt hat. „Ist doch kindisch“, meint er. Das muss man nicht so sehen.

„Sind halt Juden, die sind halt in der falschen Zeit geboren“

Es gibt Eltern von Freunden, die bitten ihn trotzdem rein. „Aber viele Menschen dachten, wir können diese Geschichte nicht ändern, wir können die auch nicht retten.“ Sie haben Angst, Probleme im Beruf oder im Büro zu bekommen. „Heute würde ich sagen, ich bin in die Opfer-Rolle geschlüpft. Ich wünsche mir, ich wäre aufrecht durch die Straßen gegangen: Nicht ich muss mich verstecken – ihr müsst euch verstecken!“ Hat er nicht gemacht. Das tut ihm leid. Auch wenn er sich nichts vorwirft. Er war zwölf Jahre alt.

„Freundschaft hält, bis jemand erfährt, dass Du als Halbjude giltst“

Neuhausen ist aber auch der Ort, an dem Walter Joelsen neue Freunde findet. Am Wittelsbacher Gymnasium zum Beispiel – bis er 1943 vom Schulbesuch ausgeschlossen wird. In Neuhausen ist er in einer Jugendgruppe der Christuskirche. In Neuhausen wird er 1941 konfirmiert. In Neuhausen nehmen Gemeindemitglieder aus der Christuskirche seine Familie ein paar Tage auf, nachdem ihr Haus in der Dachauer Straße im Juli 1944 durch eine Bombe unbewohnbar wird. „Das ist auch Neuhausen. Da waren Menschen, bei denen ich keine Angst haben musste.“

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Walter Joelsen nach der Zeit des NS-Regimes an Selbstmord dachte.

PressespiegelKontaktImpressum
This website is powered by WordPress