Winthirschüler sprechen mit Zeitzeuge Walter Joelsen
Gamze trifft Walter. Sie ist 15, er ist 17 Jahre alt. Gamze lebt im Jahr 2013, Walter im Jahr 1943. Die Begegnung findet in einem Klassenzimmer an einem Freitagnachmittag im Juli statt: Gamze und drei andere Schülerinnen und Schüler der Mittelschule am Winthirplatz in München-Neuhausen treffen heute einen so genannten Zeitzeugen des Dritten Reichs. Der ist inzwischen 87 Jahre alt, erinnert sich aber noch lebhaft an die Verhältnisse vor 70 Jahren. Genau wie Gamze, Dominik, Sara und Florian ist Walter Joelsen in Neuhausen zur Schule gegangen. Bis er zum Direktor gerufen und von der Schule verwiesen wird. Der Grund: Mit zwei jüdischen Großeltern ist er „Halbjude“ und die Nazis verbieten Walter, drei Jahre vor dem Abitur, die Schule zu beenden.
Von Julia Wieland
„Ich meine, für einen 17-jährigen bricht nicht gleich die Welt zusammen, wenn die Schule vorbei ist“, lächelt Walter. Florian kann ein Grinsen nicht unterdrücken: Nur noch knapp zwei Wochen Schule, dann ist für ihn und die drei anderen die Schulzeit zu Ende. „Aber die Vorstellung, wenn das so weitergeht mit den Nazis, dann werde ich nie eine Ausbildung erlernen und nie einen Beruf haben, das war natürlich scheußlich“, meint Walter. Das können Gamze, Dominik, Sara und Florian nur zu gut nachempfinden, sie selbst beginnen bald eine Ausbildung oder gehen auf eine weiterführende Schule.
„Und dann kam der nächste Schritt, 1944, da habe ich ein Schreiben von der Gestapo bekommen“, erzählt Walter Joelsen, „Sie haben sich am soundsovielten bei der Geheimen Staatspolizei München Brienner Straße 50 einzufinden. Mitzubringen sind ein bis zwei Wolldecken, Verpflegung für drei Tage, Arbeitskleidung und Arbeitsgeräte zum vordringlichen Arbeitseinsatz.“ Damals war Walter 18 Jahre alt. Er landete in insgesamt drei Arbeitslagern und hat überlebt – allen Schikanen, allen Schrecken, Widrigkeiten und Rückschlägen zum Trotz. „Damals hatte ich das Gefühl, irgendwie schaff ich das schon“, beantwortet Walter Saras Frage. „Ich hatte immer das Gefühl, ich habe mehr Zukunft als die Nazis. Ich weiß nicht warum, aber es war so.“
„Haben Sie sich manchmal gefragt, wieso trifft es gerade mich?“ will Florian wissen.
„Natürlich“, entgegnet Walter. „ Ich habe mich gefragt, was geht das mich an? Mein Vater hat sich taufen lassen, ich hatte ihn nie als Juden kennengelernt, ich kannte auch seine Familie nicht, ich kannte keinen einzigen Juden. Auch die jüdischen Eltern meines Vaters nicht. Ich hatte vor allem als Bub eine Wut auf meine jüdischen Großeltern“, beantwortet er Gamzes Zwischenfrage, „überhaupt auf alles Jüdische.“
Man habe ihn plötzlich zu etwas gemacht, das er gar nicht sein wollte, erzählt Walter. Er wäre einfach gerne wie alle anderen gewesen. Aber schon als Zwölfjähriger, 1939, habe er leider erfahren müssen, dass er irgendwie anders sei. Von einem Tag auf den anderen habe er alle seine Freunde verloren, durfte nicht mehr mit ihnen Fußball spielen: Auf Betreiben des Ortsgruppenleiters hätten die Mütter ihren Kindern den Umgang mit „diesem Halbjuden“verboten. „Als dann 1942 ganze Jahrgänge zur Hitlerjugend aufgerufen wurden, sagte der Stammführer zu mir: Also bei dir ist das was anderes. Du musst nicht zur Hitlerjugend, du weißt schon, warum. Aber wenn du willst, kannst du. Und das war natürlich eine Versuchung, weil mir klar war, wenn ich zur HJ gehe, kann doch niemand mehr sagen, dass ich anders als die anderen bin.“ Walter ging daraufhin zur Hitlerjugend. Genützt habe sein Versuch, sich zu integrieren, dennoch nichts, meint Walter – als ihn der Direktor von der Schule warf.
Florian versteht nicht, warum die Freunde von Walter sich nicht zumindest heimlich mit ihm getroffen haben. Er fragt Walter, ob er Wut gegen seine ehemaligen Freunde empfindet.
„Also ich bin nicht zu ihnen hingegangen und hab gesagt, Du, was hast du damals gemacht? Das wollte ich nicht, was sollte das auch“, meint Walter. „Ich bin dem damals aus dem Weg gegangen, und hatte nie das Gefühl gehabt, ich möchte mich rächen. Ich war mehr verletzt, als dass ich Wut hatte.“ Enttäuscht habe ihn, dass bei einem Klassentreffen im Jahr 1946, zu dem ihn seine ehemaligen Klassenkameraden eingeladen hatten, niemand auf ihn zugekommen sei und gesagt habe, schön, dass es dich noch gibt. „Man hat Lehrer nachgemacht, irgendwelche Streiche erzählt, das habe ich nicht verstanden“, sagt Walter. „Diese Klasse bestand aus vielen, die Soldaten gewesen waren, die auch Schreckliches erlebt hatten, und das ist einfach totgeschwiegen worden.“ Zwei seien auf ihn zugekommen und haben gesagt: Gell, du weißt schon, dass ich kein Nazi war. „Einfach saublöd“, findet Walter.
Es ist still im Klassenzimmer. Nur die Uhr an der Wand macht ab und zu knackende Geräusche. „Was hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich konkret in Ihrem Leben verändert?“, will Dominik jetzt wissen.
„Äußerlich eine ganze Menge“, meint Walter. „Ich bin wieder in die Schule gegangen, ich habe studiert, einen Beruf ergriffen, ich hab nicht mehr jeden Tag vor etwas Angst haben müssen. Innerlich war das schwieriger“, sagt er, „denn die Vorstellung, in Zukunft mit vielen Menschen zu leben, in deren Köpfen ja immer noch Antisemitismus ist, war schwer. Heute würde ich sagen, ich hätte viel mutiger sein müssen. Hätte sagen müssen, das bin ich. Schluss.“
Damals habe er gemeint, halt deinen Mund, erzähl niemandem was, das geht niemanden was an. Er habe erst Freunde finden müssen, die ihm geholfen hätten, auch über das zu reden, was ihm Probleme mache. In der Öffentlichkeit mache er das erst seit ein paar Jahren. „Heute ist mir vor allem wichtig, Menschen wie euch Mut zu machen und zu sagen, passt auf, dass sowas wie früher nicht bei euch passiert.“
Lesen Sie im zweiten Teil, wer und was Walter letztlich das Leben gerettet hat…