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Winthirschülerin Gamze im Gespräch mit Zeitzeuge Walter Joelsen

Fühlt mit – Gamze
Foto: Christian Pracher



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„Ohne meine Freunde hätte ich es nicht geschafft.“

Walter kommt noch einmal auf die Situation zurück, als er im Jahr 1939 im Alter von 12 Jahren, auf einen Schlag alle seine bisherigen Freunde verloren hat – eine Katastrophe. Er sei ihnen aus dem Weg gegangen, habe notfalls die Straßenseite gewechselt, um ihnen nicht zu begegnen. Die Mutter habe ihm dann den Rat gegeben, in den Jugendgruppen der evangelischen Christuskirche in Neuhausen neue Freunde zu suchen. „Da wird`s anders sein, meinte sie. Und sie hat Recht gehabt. Ich bin in die Christuskirche gegangen, in den Konfirmandenunterricht gegangen, bin konfirmiert worden, bin ich die Jugendgruppe gegangen. Dort haben ein paar gewusst, dass ich Halbjude bin. Aber die hat das nicht gestört!“, freut sich Walter noch heute. „Plötzlich hatte ich wieder Freunde, und damals war mir eigentlich schon klar: Wo der Einzelne als Mensch gilt und nicht in irgendeine Schublade gesteckt wird, in so einer Welt möchte ich leben. Und darum habe ich dann nach dem Krieg angefangen, Theologie zu studieren und bin Pfarrer geworden.“

Rückschläge habe es aber durchaus in seinem Leben gegeben, berichtet Walter Joelsen. 1952, sieben Jahre nach dem Ende der Nazizeit, habe eines seiner Gemeindemitglieder an den Nachbarpfarrer geschrieben, sie möchte von ihm beerdigt werden, weil der Joelsen ja jüdischer Herkunft sei. „Plötzlich war es wieder da… Da habe ich gedacht, ich lauf davon, das halte ich nicht aus“, schildert Walter. „Und da war es gut, dass ich Freunde gehabt habe, die gesagt haben, du bleibst.“

Gamze schluckt, verstohlen wischt sie sich Tränen ab.

Walter berichtet, dass er dann nach seiner Zeit als Pfarrer zuerst als Religionslehrer, später als Studentenpfarrer tätig war, und die letzten 20 Jahre seines Berufslebens als Redakteur für eine Filmproduktionsgesellschaft. Seit einigen Jahren halte er bei besonderen Anlässen Gottesdienste in der Kirche, die auf dem Gelände der Gedächtnisstätte Dachau steht. Und erzähle ab und zu Schülern wie Gamze, Dominik, Sara und Florian seine Geschichte.

„Die christliche Gemeinschaft hat mir eine Zukunft gegeben.“

„Wie haben Sie, nach allem, was Sie erlebt haben, den Weg zur Theologie gefunden?“ So unterschiedlich die persönlichen Hintergründe auch sind, diese Frage interessiert alle brennend.

Walter muss überlegen. „Die christliche Gemeinde in der Christuskirche damals war die einzige Gruppe von Menschen, wo ich sicher sein konnte, morgen ist es wie heute. Also, die verraten uns nicht, die geben den Kontakt zu uns trotz gesetzlicher Verbote nicht auf“, meint Walter schließlich. „Als ich aus der Schule flog, wurde ich als Hilfsjugendwart, ab 1944 zusätzlich als Hilfskirchner angestellt, ich hatte zwar keine Ausbildung, aber ich habe dann die evangelischen Jugendgruppen im Münchner Westen begleitet, soweit es sie noch gab. Das war etwas ganz Wichtiges, das hat mir ein Stück Zukunft gegeben und, ja, das habe ich später so nicht mehr gefunden… doch, jetzt wieder, in Dachau. Dort habe ich Freunde gefunden, auf die man bauen kann.“

Ob es also eher die Menschen waren, die zur Theologie geführt haben, oder ein Erlebnis mit Gott, wollen seine jungen Zuhörer wissen.

„Als ich 1941 konfirmiert worden bin, habe ich vom Pfarrer einen Konfirmationsspruch aus dem Buch des Propheten Jesaja bekommen, den ich einfach persönlich genommen habe“, erzählt Walter. „Fürchte dich nicht – fürchte dich nicht, Walter Joelsen – ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein (Jesaja 43, aus 1; Anm. d. Red.). Dieser Konfirmationsspruch hat zur Theologie geführt.“

„Ich möchte in einer Welt leben, in der jeder sein darf, wie er ist.“

Als Pfarrer habe er doch bestimmt viele hundert Male das Vaterunser gebetet. Wie gehe er mit der Passage um, in der es heiße ‚Vergib uns, wie wir vergeben unsern Schuldigern‘?„Einmal wurde mir die Frage gestellt: Was würden Sie denn tun, wenn Ihnen Hitler im Jenseits begegnen würde? “, erzählt Walter. „Da kann ich bloß sagen, wir hätten uns unterhalten müssen. Es wäre darauf angekommen, was er gesagt hätte. Entweder hätten wir im Gespräch einen Weg zueinander gefunden, oder wir hätten uns wieder getrennt.“

Walter habe auch Konflikte in der eigenen Familie erlebt, als eine (nichtjüdische) Kusine mütterlicherseits einen Adjutanten von Rudolf Hess geheiratet habe, also einen aus der obersten Nazi-Etage. Keiner hätte damals erfahren dürfen, dass die Kusine womöglich jüdische Verwandtschaft habe. Ein Kontakt war demnach völlig unmöglich. Nach dem Krieg habe seine Kusine bloß gemeint: „Es war eine grauenvolle Zeit. Da konnte ich nur sagen, ja, du hast Recht. Ich hab doch keine Veranlassung, jemandem etwas nachzutragen, weil ich weiß, ich lebe davon, dass auch mir nichts nachgetragen wird.“

Walter trifft Gamze. Er ist 87, sie ist 15 Jahre alt. Beide leben im Jahr 2013. Vieles unterscheidet Walter und Gamze voneinander, aber vor allem haben sie mit den anderen drei gemeinsam: Sie wollen in einer Welt leben, in der der Einzelne sein darf, wie er ist.

 

Wer steckt hinter den Namen? Und was hat das Gespräch ausgelöst? Mehr

Hören Sie Walter, Gamze, Dominik, Sara und Florian zu – in der Mediathek oder hier:

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