Interview mit Naomi Isaacs – Auszug aus dem Audio-Beitrag
Die bekannte Münchner Musikerin Naomi Isaacs, geboren 1943, aufgewachsen in England und Tochter einer aus Deutschland geflohenen jüdischen Mutter, schildert uns ihre Eindrücke zum Holocaust-Erinnerungsprojekt „hier wohnte…“: Vor fünf Häusern im Stadtteil Neuhausen hat der Aktionskünstler Wolfram P. Kastner weiße Koffer und Informationstafeln aufgestellt. Die Koffer sowie die Biographien und Fotos erinnern vor allem daran, dass auch in unserer Nachbarschaft unzählige Menschen vom NS-Regime deportiert und ermordet wurden. Wolfram P. Kastner zitiert Reiner Bernstein: „Das Geheimnis der Erinnerung ist die Nähe.“
Von Ulrike Eva v. Weltzien
Vor dem Standort der Koffer am Rotkreuzplatz 2 schildert Naomi Isaacs ihre Gedanken zu den weißen Koffern sowie ihre Assoziationen zur Gegenwart und zum Umgang der Juden mit ihrer eigenen Geschichte.
Frau Isaacs, welche Botschaft für die Gegenwart sehen Sie?
„Wir haben Nachbarn, Freunde, Kollegen, die aus anderen Ländern herkamen und zum Teil seit mehreren Generationen Münchner geworden sind. Die Botschaft für die Gegenwart ist: Auch wenn die Haarfarbe und die Hautfarbe eines Menschen das Erste ist, was wir sehen, ist es das Letzte, was wir im Umgang mit ihnen berücksichtigen sollten. Jeder von uns ist in erster Linie eins: ein Mensch!“
Welche Symbolik haben für Sie die weißen Koffer?
„Zuerst dachte ich, dass die Koffer aussehen wie bestellt und nicht abgeholt – ein bisschen alt und etwas schäbig. Doch mit der Zeit ist für mich der Eindruck stärker geworden, dass sie nicht nur einfach seit Langem dort stehen, sondern wie Geister aus einer anderen Zeit erschienen sind, um uns etwas Wichtiges zu sagen.“
1938/1939 wurden 10.000 Kinder jüdischer Familien aus Deutschland nach England gebracht. Haben Sie Flüchtlinge kennen gelernt, die Ihnen Ihre Geschichte erzählt haben?
„Ob ich Flüchtlingskinder in der Schule kennen gelernt habe, kann ich nicht sagen, darüber wurde sehr wenig geredet. Aber meine Mutter ist selbst Jüdin und 1937 nach England geflohen, wo sie meinen Vater kennenlernte. Sie war in Berlin aufgewachsen. Für Nichtjuden ist es vielleicht überraschend, dass das Thema Holocaust unter Juden kaum besprochen wird. Die später sehr bekannte Musikerin und Autorin Anita Laske-Wallfisch war unser Kindermädchen. Sie hatte Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt. Als wir die Nummer auf ihrem Arm entdeckten, sagte sie nur: Ach, das habe ich mal im Spiel gemacht!“
Den ersten Teil des Interviews finden Sie in der Mediathek oder hier
Erster Teil
Bei den Koffern in der Volkartstraße 40 findet eine Begegnung zwischen Naomi Isaacs und Wolfram P. Kastner statt. Die beiden unterhalten sich über das Projekt und dessen Bedeutung für die Gegenwart.
Naomi Isaacs betrachtet eine Weile die Koffer-Installation und die dazugehörige Tafel mit Bildern und Geschichten der Deportierten. Besonders berührt ist sie vom Anblick der Gesichter sowie der Adressanhänger auf mehreren großen Koffern und einem kleinen Koffer, der wohl einem Kind gehörte. Nur einer davon trägt eine Adresse in den USA. Eine einzige jüdische Bewohnerin des Hauses konnte fliehen. Alle anderen wurden ermordet.
Frau Isaacs, Sie verfolgen die Arbeit von Herrn Kastner bereits eine Weile. Möchten Sie nach Ihrer Begegnung mit dem Künstler eine Botschaft zu dem Projekt abgeben?
„Ich denke, dass dieses Projekt zum ersten Mal eine Möglichkeit bietet, den Blick nach vorne statt in die Vergangenheit zu richten. Durch die Bilder, durch die Gesichter der Bewohner, können wir die Verbindung zur Gegenwart herstellen: zu Menschen, die wir kennen, die jedoch anders aussehen, die aus anderen Ländern kommen und hier mit uns leben. Wir werden daran erinnert, wie wichtig es ist, einander einfach als Menschen zu betrachten, um niemals wieder andere aufgrund ihrer Herkunft in irgendeiner Form auszuschließen.“
Welchen Eindruck nehmen Sie heute mit?
„Mein stärkster Eindruck ist, dass etwas, das früher Geschichte war, jetzt Gesichter bekommen hat und dadurch sehr plastische Realität geworden ist.“
Den zweiten Teil des Interviews finden Sie in der Mediathek oder hier
Zweiter Teil
Das komplette Audio-Interview finden Sie in der Mediathek oder hier
Die Münchner Musikerin Naomi Isaacs, geboren 1943 in London, war bereits in ihrer englischen Heimat als Folksängerin beliebt, bevor sie 1968 nach München kam und sich dem Jazz und der freien Improvisation zuwandte: „Keine andere Sängerin, die zum Umfeld der so genannten Münchner Szene zu rechnen ist, verspritzt derartig viel Individualität, wie es Naomi Isaacs vermag.“ schrieb die Kulturzeitschrift Applaus. Die Tochter eines klassischen Pianisten und einer Balletttänzerin, die als Jüdin zur NS-Zeit aus Deutschland nach England floh, ist seit vielen Jahren eine zentrale Figur in der Münchener Kulturlandschaft – nicht nur als Künstlerin, sondern auch als inspirierte und inspirierende Lehrerin sowie Förderin junger Talente.
1990 gründete sie das New Vocal Center in München, ein Institut für Unterricht und Workshops „rund um die Stimme“. Hier unterrichtete sie selbst und lud viele bekannte Sängerinnen und Sänger ein, Workshops zu geben. Als engagierte, innovative und hochqualifizierte Pädagogin leitet sie Lehrgänge in Deutschland sowie international. Auch auf Führungsebene bietet sie Seminare und Einzelcoaching zu einer Reihe von Themen, die sich um Stimme, Präsenz und Energie drehen. 1999 ging sie als Schauspielerin mit ihrem Eine-Person-Stück „One Woman …ein Leben“ auf die Bühne.
Neben ihrer eigenen Arbeit war Naomi Isaacs mehrere Jahre im Vorstand der „Jazzmusiker Initiative München e.V.“ und war Teil der Jury bei lokalen und nationalen Musikveranstaltungen. Fünf CDs, die ihre vielseitige musikalische Arbeit dokumentieren, sind unter ihrem Namen erschienen.