Perutz, Charlotte

Charlotte Perutz um 1939
Otto und Charlotte Perutz um 1901

Charlotte Perutz wurde am 18. Mai 1855 in Nürnberg geboren. Sie war die Tochter des Kaufmanns Salomon Lust aus Königsberg und seiner Frau Rosa, geborene Wertheimer. Sie hatte zwei Brüder, Alfred und Hermann.

Die erste Ehe schloss sie 1878 in Königsberg mit Louis Kann, der am 5. Juni 1893 verstarb. Die Ehe war kinderlos.
Am 15. Oktober 1901 heiratete sie in München den Diplom-Chemiker Otto Perutz, geboren am 27. Juli 1847 in Teplitz-Schönau, Nordböhmen. Otto Perutz hat mit der Entwicklung hochempfindlicher Emulsionsplatten die Farbphotographie bahnbrechend vorangetrieben. Er war Inhaber der Firma „Trockenplattenfabrik München GmbH“ in München. Nach ihm sind Straßen in München-Trudering und in Bruckmühl-Heufeld benannt.

Otto Perutz war bereits einmal verheiratet, seine jüdische Ehefrau Caroline starb am 17. Januar 1896 in München. Sie hatten sechs Söhne, von denen nur einer, Felix, geboren am 27. Februar 1875 in Heufeld bei Rosenheim, die Kindheit überlebte.

Dr. Felix Samson Perutz, der Sohn von Otto Perutz aus dessen erster Ehe, hatte seine Praxis in der Sonnenstraße 12. Er nahm verschiedene Ehrenämter wahr, darunter die Betreuung der Kinder im evangelischen Waisenhaus in der Kaulbachstraße. Im Jahr 1896 konvertierte er von der jüdischen zur evangelischen Religionsgemeinschaft und heiratete 1902 die Protestantin Helene Schöttle. Sie hatten einen Sohn und zwei Töchter. Nach dem Tod seiner Ehefrau 1933 lebte er in der Königinstraße 69 im Haus, das ihm auch gehörte. 1935 galt der Protestant Dr. Felix Perutz aufgrund seiner jüdischen Herkunft als Jude. Tief erschüttert von seinem Ausschluss aus der Münchner Gesellschaft und seinem bisherigen Lebensumfeld verübte er am 11. November 1937 Suizid. Seit 2022 gibt es ein Erinnerungszeichen für ihn an der Königinstraße 69. Es gibt mehrere Nachkommen von Felix Perutz, darunter seinen Enkel Benno von Rechenberg.

Charlotte und Otto wohnten zunächst am Maximiliansplatz 5, bezogen dann 1908 eine hochherrschaftliche Wohnung im 1. Stock links der Martiusstraße 8.
Die Wohnung umfasste ungefähr 300 qm und bestand aus Esszimmer, Wohnzimmer, Salon, Schlafzimmer, Fremdenzimmer, Herrenzimmer, Badezimmer, Ankleidezimmer und zwei Mädchenzimmern. Die Wohnung war nach Schilderungen von Zeitgenossen mit antiken Möbeln ausgestattet und in jedem Zimmer lagen echte Perserteppiche und Brücken 1 . Das „große Esszimmer war mit schweren Möbeln ausgestattet, die Stühle hatten hohe Lehnen“ 2 . Das Ehepaar Perutz sammelte auch Kunst, denn in der Wohnung hingen Gobelins und wertvolle Gemälde.3

Die Ehe von Otto und Charlotte Perutz blieb kinderlos und am 18. Januar 1922 verstarb Otto Perutz. Seine Witwe Charlotte blieb in der gemeinsamen Wohnung, die sie zeitweise mit Anna Lust (geboren am 11. Februar 1880 in Hamburg) teilte. Anna war die Frau ihres Bruders Alfred, der 1923 verstorben war. Anna Lust lebte von September 1925 bis August 1927, von Dezember 1930 bis Oktober 1933 und von Anfang 1934 bis zu ihrer Emigration nach New Jersey im April 1937 im Haushalt von Charlotte.

Im Zuge der Reichspogromnacht am 9. November 1938 verschärfte sich der Verfolgungsdruck für die Juden Münchens. Noch im November 1938 musste Charlotte Perutz „den Schmuck und das Gebrauchssilber abliefern“ 4, „ebenso wurde ihr Bankkonto gesperrt“ 5.

Charlottes Zugehfrau Therese Benedikt berichtete folgendes: „Es hat damals geheißen, die Teppiche und Gemälde seien von den Nazi beschlagnahmt“ und „Frau Perutz darf nichts mehr wegnehmen und sie darf nichts mehr verkaufen.“ 6
Charlottes zweite Zugehfrau Hermine Kreilinger schilderte die Vorgänge in einer Zeugenaussage im Jahre 1960 so:
Es kam „ein Herr Alt von der Fa. Helbig“, der die Bilder abkaufte. „Das Geld hat Frau Perutz nicht mehr bekommen, es musste auf eine Bank überwiesen werden.“
Eine „halbe Stunde vorher“ erschien „ein Justizrat Königsberger“, der „die Schmuck- und Silbersachen schätzte. Diese Sachen wurden verpackt und nach ein paar Tagen weggefahren.“ 7 8
Unter den Gemälden befanden sich nach einer Zeugenaussage von Alice Morgenroth, einer Nichte von Charlotte, ein Frauenportrait von Lenbach, Dürerstiche, ein Werk von Max Liebermann, ein Gemälde von Wouwermann, „mit den berühmten Schimmeln“ 9 und „auch eine echter Leibl war dabei.“ 10 Über den weiteren Verbleib dieser Raubkunst und die heutigen Besitzer ist nichts bekannt.

Seit dem April 1939 waren mit dem Entzug des gesetzlichen Mieterschutzes die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, um Juden aus ihren Wohnungen zu vertreiben oder ihnen zwangsweise jüdische Untermieter zuzuweisen. Neben der Verwertung der freiwerdenden Wohnungen war das Ziel dieser Maßnahme, die Juden Münchens zu ghettoisieren und auf engstem Raum zusammenzupferchen.

Vom 21. Januar 1939 bis zum 1. April 1939 waren bei Charlotte Sabine Bachmann und Bertha Dispeker gemeldet. Bertha Dispeker lebte zuvor in der Kaulbachstraße 26 bei Mina Lewin. Ungeklärt muss bleiben, ob sie ihre Wohnung wegen der Emigration ihrer Vermieterin nach Australien verlor. Da in München die NSDAP schon vor der reichsweiten gesetzlichen Regelung in Eigenregie Entmietungen von Juden vornahm, ist davon auszugehen, dass auch Bertha Dispeker und Sabine Bachmann entmietet und bei Charlotte eingewiesen wurde. 11

Charlotte Perutz musste in der Folge zwei Zimmer abtreten, die neu vermietet und wahrscheinlich zeitweilig mit anderen entmieteten Juden belegt wurden. 12

Am 28. März 1941 musste die zu diesem Zeitpunkt fast 86-jährige Charlotte Perutz ihre Wohnung verlassen, in der sie 33 Jahre gelebt hatte.
Nach den Erinnerungen der Zugehfrau Hermine Kreilinger kam zuvor Franz Mugler, SA-Obersturmführer und Angestellter der sogenannten „Arisierungsstelle“, in Charlottes Wohnung. Die Aufgabe der beim Gauleiter angesiedelten „Arisierungsstelle“ war neben der Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben auch die Vertreibung aus ihren Wohnungen.
Mugler „benahm sich gegen Frau Perutz sehr flegelhaft und machte mir Vorwürfe, dass ich als Christin bei einer jüdischen Dame tätig bin. Er stellte mir in Aussicht, dass ich in eine Munitionsfabrik kommen müsse“. Mugler schrieb sich alle Einrichtungsgegenstände auf und „sagte noch, die Wohnung müsse binnen drei Tagen geräumt werden. 13

Charlotte Perutz versuchte zuvor, einige Gegenstände zu retten und sie bei verschiedenen Personen unterzustellen. So ließ sie einer in Mischehe lebenden jüdischen Bekannten in der Hohenzollernstraße Teppiche, einen Tisch und ein wertvolles Schränkchen zur Aufbewahrung zukommen. Auch eine, bei einer Verwandten beschäftigten Putzfrau hatte Teppichbrücken, einen Samtvorhang sowie einen Nerz zur Aufbewahrung erhalten. 14
Den Großteil ihrer Einrichtung ließ sie bei einem Bauern in München-Moosach unterstellen. „Sie dachte immer noch, sie könnte die Möbel wieder zurückerhalten, wenn es wieder normale Zeiten gäbe“, erinnerte sich Hermine Kreilinger. Bis die Möbel abtransportiert werden konnten, wurden sie im Flur des Hauses und im „ungeschützten Hofraum“, wo sie „der Witterung preisgegeben waren“ 15 gelagert. Diese Möbel wurden später durch einen Fliegerangriff zerstört. 16

Nach dem Abtransport der gesamten Einrichtung blieb nur Charlottes Schlafzimmer und Möbel aus einem kleiner Nebenraum zurück. 17 Diese Möbel konnte sie zunächst mitnehmen.

Über die weitere Nutzung der Wohnung gibt es unterschiedliche Angaben. Während Hermine Kreilinger aussagte, dass in die „geräumte Wohnung“ „andere Juden“ hineinkamen, „die den notwendigen Hausrat mitbrachten“ 18, berichtete der Hausmeister, dass die restlichen Räume der „Standartenführer Stirnweiss“ bezog. 19
Hierbei handelte es sich um den Lagerführer des Außenlager des KZ Dachau in München – Giesing (Agfa Kamerawerke) SS-Untersturmführer Kurt Konrad Stirnweis. 20

Charlotte Perutz wurde in den kommenden Wochen gezwungen, noch weitere fünfmal umzuziehen. So wurde sie zunächst in die Pension Leopold in der Leopoldstraße 16 und in die Pension Royal in der Bayerstraße 25 verbracht um dann die jüdischen Altersheime in der Mathildenstraße 9 und Klenzestraße 4 zu durchlaufen, bis sie schließlich aus dem israelitischen Krankenhaus in der Hermann-Schmid-Straße 7 in das KZ Theresienstadt deportiert wurde, wo sie aufgrund der unmenschlichen Bedingungen laut Todesfallmeldung des Ältestenrates am 23. September 1942 im Altersheim in der Kavalierkaserne an „Altersschwäche und Darmkatarrh“ starb.




Todesfallanzeige des Ältestenrats im KZ Theresienstadt zu Charlotte Perutz

Charlottes Bruder Hermann Lust, Rechtsanwalt und Justizrat, geboren am 13. März 1866 in Nürnberg, und seine Frau Emma, geborene Königsberger, die am 10. Juli 1870 in München zur Welt kam, begingen wegen ihrer bevorstehenden Deportation am 8. Juni 1942 in ihrer Wohnung in der Siegfriedstraße 10 gemeinsam Selbstmord.

Wenige Tage vor Ihrer Deportation musste Charlotte am 30. Mai 1942 eine Vermögenserklärung abgeben, die der Vorbereitung des Raub Ihrer verbliebenen Besitztümer durch den NS-Staat diente. Von ihrer Wohnungseinrichtung konnte sie hier lediglich noch einen Nachttisch, einen Sessel und ein Kopfkissen, aber keine Kleidung mehr angeben. Das umfangreiche Wertpapierdepot über ungefähr 250.000, – RM, das sie zu diesem Zeitpunkt noch besaß, verfiel an das Reich und wurden „verwertet“, als Charlotte schon mehrere Monate tot war. 21

Für den NS-Staat war der Fall der Charlotte Perutz damit abgeschlossen.

Quellen:

  1. Stadtadressbücher München, Online-Quellen.
  2. Stadtarchiv München, Biografisches Gedenkbuch der Münchner Juden 1933-1945.
  3. Stadtarchiv München, Hausbogen Martiusstraße 8.
  4. Staatsarchiv München, StAM, Wiedergutmachungsbehörde I für Oberbayern N 428
    – Zeugenaussagen 1959 und 1960 im Rahmen eines Entschädigungsverfahrens, dabei folgende Personen:
  5. Alice Morgenroth, geb. Stern, eine Nichte von Charlotte Perutz und eine der Antragstellerinnen.
  6. Heinrich Schimmel, Martiusstraße 8/0, Hausmeister in der Martiusstraße 8 seit 1931.
  7. Therese Benedikt, Zugehfrau bei Charlotte Perutz bis Oktober 1940.
  8. Hermine Kaus geb. Kreilinger, Zugehfrau bei Charlotte Perutz von 1934 bis 1941.
  9. Staatsarchiv München, StAM, OFD München, Akt 8086, Film 2199.
  10. Informationen zur Familie Perutz inklusive Bild von Otto und Charlotte Perutz, Benno von Rechenberg.
  11. Unterlagen zu Dr. Felix Samson Perutz, Erinnerungszeichen München

  1. vgl. Heinrich Schimmel ↩︎
  2. Therese Benedikt ↩︎
  3. vgl. Alice Morgenroth ↩︎
  4. Therese Benedikt ↩︎
  5. Heinrich Schimmel ↩︎
  6. Therese Benedikt ↩︎
  7. Hermine Kaus geb. Kreilinger; Kreilinger wohnte laut dem Hausbogen auch vom 1. 2.1934 bis zum 20.3.1941 in der Wohnung von Frau Perutz ↩︎
  8. Bei der „Fa. Helbig“ handelt es sich um das bekannte Kunst- und Auktionshaus Hugo Helbing, dessen jüdischer Besitzer zu diesem Zeitpunkt schon an den Folgen der Misshandlungen nach der Reichspogromnacht gestorben war. Das Geschäft stand schon vor dem 9.11.1938 unter Leitung des ‚arischen‘ Prokuristen Adolf Alt und wurde in der Folge geschlossen, arisiert und unter anderem Namen weitergeführt. https://de.wikipedia.org/wiki/Hugo_Helbing ↩︎
  9. Alice Morgenroth ↩︎
  10. Heinrich Schimmel ↩︎
  11. Beide wurden für den 1.4.1939 in die Pension Gisela in der Giselastraße 15 abgemeldet. Bachmann, Sabine; geb. Model, * Fürth 26.4.1860 wird nicht im Gedenkbuch der Stadt München aufgeführt und gilt laut https://mediadb.nordbayern.de/pdf/fuerth_namen.pdf als verschollen. ↩︎
  12. Inwieweit auch in der Restwohnung von Charlotte Perutz entmietete Juden untergebracht wurden, bleibt unklar. Während das Gedenkbuch der Münchner Juden bei Perutz vom 20.1.1941 bis zum 28.3.1941 Flora Böhm und vom 21.3.1941bis zum 28.3.1941 Elisabeth Heims als Bewohnerinnen angibt, werden beiden Frauen im Hausbogen der Martiusstraße 8 als Bewohnerinnen der ehemaligen Wohnung der Familie Haimann im EG rechts aufgeführt. ↩︎
  13. vgl. Hermine Kaus geb. Kreilinger ↩︎
  14. vgl. Hermine Kaus geb. Kreilinger ↩︎
  15. Heinrich Schimmel ↩︎
  16. Hermine Kaus geb. Kreilinger ↩︎
  17. vgl. Hermine Kaus geb. Kreilinger ↩︎
  18. Hermine Kaus geb. Kreilinger ↩︎
  19. Heinrich Schimmel ↩︎
  20. Stirnweis wohnte laut dem Hausbogen für die Martiusstraße 8 dort im ersten Stock vom 1.4.1941 – 8.8.1945. Im Stadtadressbuch München 1943 wird für den ersten Stock „Stirnweis, Konr. Vertret.“ aufgeführt.
    Die unterschiedlichen Angaben können auch darauf hinweisen, dass die Wohnung weiter aufgeteilt wurde. Vielleicht bezog sich Fr. Kreilinger auch auf die bereits zuvor abgetrennten zwei Zimmer.
    Kurt Konrad Stirnweis wurde im Rahmen der Dachauer Prozesse zu 2 Jahren Arbeitslager verurteilt. ↩︎
  21. vgl. OFD ↩︎

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