Ein Text von Ursula Binsack
Meine Mutter und deren Schwester, meine Tante Erika, erzählten gerne von ihrer Tante Alma. Die lebte zusammen mit ihrem Mann Leo in München. Das Ehepaar hatte keine Kinder. Aber die beiden Nichten, Elisabeth und Erika, waren immer wieder einmal dort zu Besuch. Da gab es Bananen(!). Das war damals noch etwas ganz Exotisches und ein Luxus, den es in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts für die beiden Mädel nur bei der Tante gab.
Viel mehr haben meine Mutter und meine Tante nicht erzählt über Alma und Leo, außer, dass sie als Münchner Bürgerin und Bürger jüdischer Herkunft irgendwann in der Zeit des Nationalsozialismus abtransportiert wurden und nie wieder zurück kamen.
Durch die Mitarbeit für die Aktion Weiße Koffer der Erinnerung – hier wohnte konnte ich doch noch ein wenig mehr erfahren über Großtante Alma und ihren Mann Leo Rothmann.

Ich bin nach Fürth gefahren, in die Geburtsstadt Almas. Dort konnte ich auf dem Neuen jüdischen Friedhof das Grab ihres Vaters, Max Friedmann, ausfindig machen. In der Friedhofshalle sind auf einer Wand die Namen aller Fürther Bürger jüdischer Herkunft aufgeschrieben, die in der Zeit des NS-Regimes ermordet wurden. Da steht auch der Name meiner Großtante: „Alma Rothmann“.
Im Gedenkbuch der Stadt München (gedenkbuch.muenchen.de) ist zu lesen, dass Alma und Leo Rothmann zwischen 1915 und 1941 drei mal umgezogen sind. Erst jetzt weiß ich, dass sie zweimal zwangsweise in sogenannte „Judenhäuser“ eingewiesen wurden. „Judenhäuser“, das waren zumeist Häuser jüdischer Eigentümer, die noch rechtzeitig emigrieren konnten. Ihre Immobilien wurden enteignet.
Dass Leo Rothmann schon vom 10. November bis 6. Dezember 1938 im Konzentrationslager Dachau interniert war, davon hatte ich bisher nie gehört. Jetzt habe ich es auf den Seiten des Bundesarchivs erfahren im Gedenkbuch für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945. Er wurde offensichtlich im Zusammenhang mit der Pogromnacht verhaftet.
Wie erlebten meine Oma Dora Kraemer, ihr Mann Philipp und die beiden Töchter, meine Mutter Elisabeth und meine Tante Erika, diese Nacht und die darauffolgende Zeit? Wir haben nie darüber gesprochen.
Am 16. Januar 1942 wurden Alma und Leo Rothmann in der sogenannten „Heimanlage für Juden“ in Berg am Laim interniert. Ein halbes Jahr später dann der Abtransport ins Ungewisse, in den Tod:
Im Juli 1942 wurde Alma mit ihrem Mann Leo per „Straftransport“ deportiert. Ihr „Verbrechen“ war: „jüdisch“. Das bedeutet eigentlich nichts. Die beiden Schwestern von Alma, die ich selbst kannte, weil sie auf verschiedenen Wegen diese grauenvolle Zeit überlebt haben, waren nicht religiös. Und natürlich war die ganze Familie deutsch. Was sind das überhaupt für Kategorien, in die da Menschen eingeteilt werden?
Auf der Liste der Deportierten, die von der Dienstelle für Vermögensverwertung des Oberfinanzpräsidiums ausgestellt ist, steht als Straftat: „Staatsfeinde“.
Wenige Tage vor dem Abtransport musste das Ehepaar eine Aufstellung ihres Eigentums und Vermögens ausfertigen:
Angaben zu Eigentum und Vermögen vom 08.07.1942:
Bargeld: 50,00
Konto (Dt. Bank) KNr. 24375: ca. 800,00
Wertpapiere: ca. 31.800,00
keine Versicherungen, Rentensprüche u.ä.
keine Schulden, offene Rechnungen u.ä. kein Wohnungsinventar, Geschirr, Fahrzeug, Kunstgegenstände …
Außerdem hatte Leo Rothmann aufgelistet, was er ganz persönlich noch besaß:
1 Hut, 1 Hemd, 3x Unterwäsche, 4 Krawatten, 1 Paar Schuhe, 3 Paar Strümpfe
Das mit den 4 Krawatten macht mich stutzig. Er war halt ein Kaufmann. Und da gehörte es sich, anständig angezogen zu sein.
1962 beantragte ein Rechtsanwalt im Auftrag einer Schwester von Tante Alma die Rückerstattung von Haushaltsgegenständen des Ehepaar Rothmann. Die Oberfinanzdirektion teilte mit, dass keine Gegenstände des Ehepaar Rothmann bekannt seien.
Diese Informationen über Vermögen und Eigentum der Rothmanns konnte ich im Staatsarchiv München nachlesen.
Was wohl aus den Geldguthaben geworden ist?
Hatten meine Großtante und ihr Mann Kunstgegenstände, die womöglich in irgendeinem Museum ausgestellt sind?
Nichts ist geblieben von Tante Alma und ihrem Mann Leo. Alles wurde ausgelöscht.
Da sind nur die beiden Fotos, die durch Stempel der Münchner Polizei verunstaltet sind. Diese Fotos wurden für die Aktion Weiße Koffer der Erinnerung – hier wohnte so bearbeitet, dass jetzt wieder die Gesichter ohne die Stempel zu sehen sind. So sind sie jetzt auch auf der Info-Tafel vor dem Haus Herzogstr. 65 dargestellt.
Und da ist unser Taufkleid:
Mein Bruder kam 1946 zur Welt. Für seine Taufe nähte meine Tante Erika ein Taufkleid. Es war Nachkriegszeit, und man musste nehmen, was der Bombenkrieg übrig gelassen hatte. Sie nähte das Taufkleid aus feinem Baumwollstoff, in den der Name „Alma“ eingestickt ist. Es war wohl Stoff aus der Haushaltswäsche unserer jüdischen Großtante, vielleicht aus der Mitgift, die sie in die Ehe gebracht hatte. Seitdem haben wir nach und nach unsere Kinder und Kindeskinder in diesem Kleid taufen lassen und alle ihre Namen eingestickt. Es ist der Stoff einer jüdischen Frau in dem wir Christen und Christinnen getauft sind, als Erben Jesu, der selbst Jude war, gefoltert und ermordet und zum Leben auferstanden, wie wir glauben. Dieses Taufkleid verbindet unsere jüdische Herkunft mit unserem christlichen Glauben. Und es wird uns immer an Alma erinnern.
Was ich noch ergänzen möchte:
Die jüngere Schwester von Alma, Sophie Seuß, konnte mit ihrer Tochter Hannelore rechtzeitig nach England fliehen und überlebte dort. Auch deren Mutter, Jenny Friedmann, lebte in England.
Die älteste der drei Schwestern, Dora Kraemer, meine Oma, überlebte zusammen mit ihren Töchtern, meiner Mutter und meiner Tante, in München, auch deshalb, weil ihr nichtjüdischer Mann, mein Opa Philipp Kraemer, immer treu zu ihnen hielt.